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Beschreibung
Seit dem Schuljahr 2018/2019 steht in der Deutschschweiz ein Lehrmittel für Französisch als zweite Fremdsprache (5./6. Klasse Primarschule, 7.-9. Klasse Sekundarschule) in einer digitalen Version für den Regelunterricht zur Verfügung (Keller-Lee und Wolfer 2017; Keller-Lee und Rast 2019). Bisherige Studien, die den Einsatz von digitalen Lehrmitteln im Unterricht untersuchen, fokussierten primär auf das Medienhandeln der Schüler:innen (Totter u. a. 2023; Totter, Keller-Lee, und Rast 2024; Rezat 2020).
Im Rahmen dieses Beitrages wird nun der Frage nachgegangen, wie sich Struktur und Agency im Unterricht am Beispiel des Handelns von Lehrpersonen als Verhältnis zu Handlungsmöglichkeiten mit digitalen Lehrmitteln konstituiert und wie sich das mithilfe einer Videostudie rekonstruieren lässt.
Damit nimmt der Beitrag direkt Bezug zum Call der Tagung und setzt sich mit Forschungsmethoden auseinander, die menschliches Medienhandeln angesichts digitaler Verwobenheit angemessen untersuchen.
Die Autorinnen gehen davon aus, dass Medienhandeln als Relation untersuchbar ist (Grabensteiner 2023) in Anlehnung an Emirbayers und Misches Definition von Agency (1998): Als temporal konstituiertes Verhältnis zu Handlungsroutinen und sozialer Praxis, die nach Jaeggi (2013) als regelhaft und sinngeleitet verstanden werden, sowie als Evaluation der Handlungssituation durch situative Urteilskraft im Moment des Handelns im Verhältnis zu einem Möglichkeitsraum für Handeln innerhalb von Routinen oder ihrer Variation.
Ansätze der Lehrmittelforschung und der Mediendidaktik, z. B. Rezats (2009; Rezat und Sträßer 2012) soziokulturelles Situationsmodell der Schulbuchnutzung zeigen, wie Unterricht in Anlehnung an das klassische didaktische Dreieck (Reusser 2009) als Interaktion von Lehrpersonen und Schüler:innen mit einem fachlichen Inhalt (dem Unterrichtsgegenstand) konzeptualisiert (Vieluf u. a. 2020) und mit Hilfe von Medien als Konstruktionszusammenhang (Petko 2020) hergestellt wird. Höhnes Arbeiten (2003) zu Schulbuch als Medium zeigen, dass Lehrmitteln über klassische Vermittlungsfunktionen hinaus auch sozial ausgehandelte Wissensstrukturen sowie Annahmen über Handlungsroutinen und Handlungsaufforderungen eingeschrieben sind.
Lehrmittel weisen eine spezifische Struktur auf. Sie werden eigens für den Unterricht eines Faches konzipiert und bestehen aus mehreren kombinierbaren digitalen und/oder analogen Lehrwerksteilen (z. B. «Arbeitsbuch» für Schüler:innen, Handbuch für Lehrpersonen, Nachschlagewerk, digitale Übungen). Der Jahresstoff wird sequenziell dargestellt und der Lehrplanbezug durch ein staatliches Zulassungsverfahren bestätigt (Wiater 2003; Sandfuchs 2010; Fuchs, Niehaus, und Stoletzki 2014; Kahlert 2010; Fröhlich 1997; Lehmann 2016; Ott 2016).
In dem hier untersuchten digitalen Französischlehrmittel sind Inhalte über eine webbasierte Lernplattform zugänglich und der Arbeitsfortschritt wird mittels «Dashboard» dokumentiert. Das Lehrmittel gliedert sich in Kapitel, welche jeweils einen Lernzyklus darstellen. Dieser wird durch einen sprachlich authentischen Input (im analysierten Fall ein über die Lernplattform zugängliches Video) eingeleitet. Im Anschluss daran können unterschiedliche rezeptive und produktive Aktivitäten, Aufgaben und Übungen mit Bezug zum Input und zum Aufbau sprachlicher Kompetenzen (z. B. Wortschatz, Grammatik, Sprachanwendung) bearbeitet werden. Den Abschluss bildet eine offene, komplexe Schlussaufgabe.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde eine Videostudie von Französischlektionen in sechs 7. Klassen einer Schweizer Sekundarschule durchgeführt (Pauli und Reusser 2006; Troll 2021). Es wurde eine qualitativ-relationale Herangehensweise entwickelt, die im Medienhandeln von Lehrpersonen den Verweisungszusammenhang zwischen Struktur und Handeln als relationale Herstellung und Variation von Handlungsroutinen und - möglichkeiten im komplexen soziotechnischen Arrangement des Unterrichts mit digitalen Lehrmitteln untersucht.
Videodaten werden mit Hilfe eines induktiv-qualitativen Kategoriensystems codiert (Rädiker und Kuckartz 2019), bei dem ausgehend von den Handlungsaufforderungen und Handlungsmöglichkeiten im Lehrmittel die Handlungen der Lehrperson in der Unterrichtssituation in Interaktion mit dem Lehrmittel (konkret die Einstiegsaktivität) erfasst werden.
Um ein Verhältnis zwischen Agency, Handeln und Struktur methodisch abbilden zu können, wird ein explorativer, relationaler Ansatz verfolgt, der sich an aktuellen Entwicklungen der Situationsanalyse (Clarke, Washburn, und Friese 2022; Friese 2023) orientiert. Interaktionen werden im Medienhandeln als Verweisungszusammenhänge mittels relationaler Karten visualisiert. Dazu werden die Codes mit sozialräumlichen Karten, sog. «Relational Maps» (Clarke, Washburn, und Friese 2022) trianguliert.
In der Analyse kann gezeigt werden, wie Lehrpersonen ihr Medienhandeln im Rahmen des Unterrichts als relationalen Zusammenhang mit Medienformen, Aufforderungen und Ermöglichungen im Lehrmittel herstellen. Im Verweisungszusammenhang zwischen Handlungsstruktur, -routine und situativen Handlungsentscheidungen wird sichtbar, wie digitale Elemente des Lehrmittels routinehaft überformt werden, wie sich aber auch neue Handlungsformen entwickeln. Dadurch werden Aussagen darüber möglich, welche Handlungsstrukturen angesichts digitalen Wandels in Schule und Unterricht etabliert werden.
Literatur
Clarke, Adele E., Rachel Washburn, und Carrie Friese. 2022. Situational Analysis in Practice: Mapping Relationalities Across Disciplines. Routledge.
Emirbayer, Mustafa, und Ann Mische. 1998. „What Is Agency?“ American Journal of Sociology 103 (4): 962–1023. https://doi.org/10.1086/231294.
Friese, Carrie. 2023. „Situational Analysis and Digital Methods“. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 24 (2). https://doi.org/10.17169/fqs-24.2.4078.
Fröhlich, Klaus. 1997. „Richtlinien, Lehrpläne“. In Handbuch der Geschichtsdidaktik, herausgegeben von Klaus Bergmann, Klaus Fröhlich, Annette Kuhn, Jörn Rüsen, und Gerhard Schneider, 510–20. Seelze: Velber Verlag.
Fuchs, Eckhardt, Inga Niehaus, und Almut Stoletzki. 2014. Das Schulbuch in der Forschung. Analysen und Empfehlungen für die Bildungspraxis. 1. Aufl. Eckert. Expertise. 4. Göttingen: V & R Unipress.
Grabensteiner, Caroline. 2023. Medienbildung im Medienhandeln: Rekonstruktionen am Beispiel von Instant-Messaging-Gruppen in Schulklassen. Bd. 11. Digitale Kultur und Kommunikation. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40699-8.
Höhne, Thomas. 2003. Schulbuchwissen: Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuches. Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft Reihe Monographien 2. Frankfurt am Main: Fachbereich Erziehungswiss. der Johann-Wolfgang-Goethe-Univ.
Jaeggi, Rahel. 2013. Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:101:1-2014021215002.
Kahlert, Joachim. 2010. „Das Schulbuch – ein Stiefkind der Erziehungswissenschaft?“ In Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht., herausgegeben von Eckhardt Fuchs, Joachim Kahlert, und Uwe Sandfuchs, 41–58. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag.
Keller-Lee, Marlies, und Christine Rast. 2019. Unterrichten mit dis donc!. Leitfaden für Lehrpersonen 7/8. Zürich, St Gallen: Lehrmittelverlag Zürich & Lehrmittelverlag St. Gallen.
Keller-Lee, Marlies, und Barbara Wolfer. 2017. Unterrichten mit dis donc! 5/6. Leitfaden für Lehrpersonen. Zürich, St Gallen: Lehrmittelverlag Zürich & Lehrmittelverlag St. Gallen.
Lehmann, Lukas. 2016. „Lehrmittelpolitik. Eine Einführung“. In Lehrmittelpolitik: Eine Governance-Analyse der schweizerischen Lehrmittelzulassung, herausgegeben von Lukas Lehmann, 1–24. Educational Governance. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12276-8_1.
Ott, Christine. 2016. „Zur Ver- und Entschränkung von Schulbucharbeit und Schulbuchzulassung Theoretische Grundlegung und historische Skizze“. In Schulbücher auf dem Prüfstand, herausgegeben von Eva Matthes und Sylvia Schütze, 31–50. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag.
Pauli, Christine, und Kurt Reusser. 2006. „Von international vergleichenden Video Surveys zur videobasierten Unterrichtsforschung und -entwicklung“. https://doi.org/10.25656/01:4488.
Petko, Dominik. 2020. Einführung in die Mediendidaktik. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
Rädiker, Stefan, und Udo Kuckartz. 2019. Analyse qualitativer Daten mit MAXQDA: Text, Audio und Video. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22095-2.
Reusser, Kurt. 2009. „Von der Bildungs- und Unterrichtsforschung zur Unterrichtsentwicklung.– Probleme, Strategien, Werkzeuge und Bedingungen“. Beiträge zur Lehrerbildung 27 (3): 295–312. https://doi.org/10.25656/01:13702.
Rezat, Sebastian. 2009. Das Mathematikbuch als Instrument des Schülers. Wiesbaden: Vieweg+Teubner. https://doi.org/10.1007/978-3-8348-9628-5.
———. 2020. „Mathematiklernen mit digitalen Schulbüchern im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Kooperation“. In Mobile Medien im Schulkontext, herausgegeben von Dorothee M. Meister und Ilka Mindt, 199–213. Medienbildung und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29039-9_10.
Rezat, Sebastian, und Rudolf Sträßer. 2012. „From the Didactical Triangle to the Socio-Didactical Tetrahedron: Artifacts as Fundamental Constituents of the Didactical Situation“. ZDM 44 (5): 641–51. https://doi.org/10.1007/s11858-012-0448-4.
Sandfuchs, Uwe. 2010. Schulbücher und Unterrichtsqualität. Historische und aktuelle Reflexionen. Herausgegeben von Eckhardt Fuchs. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Totter, Alexandra, Marlies Keller-Lee, und Christine Rast. 2024. „Digitale Mediennutzung von Schülerinnen und Schülern im Fremdsprachenunterricht der Primarschule“. Zeitschrift für Grundschulforschung, Januar. https://doi.org/10.1007/s42278-023-00189-8.
Totter, Alexandra, Daniela Müller-Kuhn, Marlies Keller-Lee, und Christine Rast. 2023. „Digitales Schulbuch zwischen Nutzungspotenzial und Nutzungspraxis“. Herausgegeben von Anna-Maria Kamin, Melanie Wilde, Klaus Rummler, Valentin Dander, Nina Grünberger, und Mandy Schiefner-Rohs. MedienPädagogik 20 (Jahrbuch Medienpädagogik), 507–30. https://doi.org/10.21240/mpaed/jb20/2023.09.20.X.
Troll, Bianca. 2021. „Analyse von Unterrichtsprozessen durch Videografie Ansätze zur Begegnung zentraler Herausforderungen“. Lüneburg: Leuphana Universität.
Vieluf, Svenja, Praetorius, Anna-Katharina, Rakoczy, Katrin, Kleinknecht, Marc, und Pietsch, Marcus. 2020. „Angebots-Nutzungs-Modelle der Wirkweise des Unterrichts. Ein kritischer Vergleich verschiedener Modellvarianten“. https://doi.org/10.25656/01:25864.
Wiater, Werner. 2003. „Das Schulbuch als Gegenstand pädagogischer Forschung.“ In Schulbuchforschung in Europa. Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektive, herausgegeben von Werner Wiater, 11–23. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
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