Sprecher
Beschreibung
Beitragende:
Sabrina Schenk
Valentin Dander
Christian Leineweber
Andreas Spengler
Kommentar:
Nina Grünberger
Die Frage der Normativität wird seit vielen Jahren in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft bzw. Bildungstheorie diskutiert (Sünker/Krüger 1999, Fuchs et al. 2013, Koller 2016, Meseth et al. 2019, Stojanov 2019) und in jüngeren Publikationen erneut auch in der Medienpädagogik aufgenommen (Leineweber 2020, Spengler 2022, Dander 2014, Grünberger/Dander i.E.), ohne damit schon zu einer zufriedenstellenden Antwort gekommen oder ausdiskutiert worden zu sein. Kritisch in den Blick genommen werden können bspw. die (bildungs-)politische Funktionalisierbarkeit medienpädagogischer Forschung, die Fokussierung auf handlungspraktische Beiträge zur Lösung gesellschaftlicher Probleme oder die Orientierung an affirmativen Bezugspunkten wie Vernunft, Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, (Medien-)Kompetenz u.v.m. Umgekehrt scheint es nicht opportun, Medienhandeln auf kritische Reflexion und Theoriebildung zu beschränken — dies insbesondere vor dem Hintergrund der doppelten konzeptionellen und professionellen Verortung der Medienpädagogik als Handlungs- und Reflexionswissenschaft (Keiner 2017: 271f., Kiefer 2022: 78ff.). Der Konflikt zwischen theoretischer Analyse und gesellschaftlicher Wirksamkeit hat bereits das 20. Jahrhundert durchzogen. Er wurde mit dem Werturteilsstreit zu seinem Beginn ausgetragen und im Positivismusstreit etwa ein halbes Jahrhundert später wiederholt. Angesichts der Verschiebungen in den politischen Förderprogrammen, der Herausforderungen und multiplen Krisen, vor die sich unsere (digitalisierte) gesellschaftliche Gegenwart gestellt sieht, scheint die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung und Wirksamkeit insbesondere für die Medienpädagogik gegenwärtig noch einmal an Dringlichkeit zu gewinnen.
Das Symposium versteht sich als offenes Forum. Im Anschluss an kurze, thesenhafte Lightning Talks der Organisator:innen zur Rekonstruktion von historischen und systematischen Bezugspunkten der Diskussion über Normativität und einer diese rahmenden Kommentierung soll zum Austausch über Perspektiven aus Bildungsphilosophie und Medienpädagogik eingeladen werden.
Lightning Talks
Sabrina Schenk:
Gesellschaftliche Wirksamkeit gehört zum Gründungsauftrag der Pädagogik. Dass sie diesem Auftrag durch Arbeit an der Theorie nachkommen soll, ist mit ihrer Institutionalisierung als wissenschaftliche Disziplin unumstritten. Der Streit darüber, ob Theorien die Gestalt von (wertneutralen) Analysen einnehmen müssen, eine kritische Funktion für die Selbstaufklärung der Gesellschaft haben oder aber handlungsleitende Impulse in der pädagogischen Profession setzen sollen, dauert an. Entlang der historischen Vorlagen dieses Streits in anderen Disziplinen will der kurze Input Bezugspunkte für die Diskussion der aktuell virulenten Frage nach der Normativität der (Medien-)Pädagogik herausarbeiten.
Christian Leineweber:
Leitend für den zweiten Impuls ist die These, dass heute weder rein optimistische Zukunftsszenarien noch kritische Prognosen geeignet scheinen, um medienpädagogische Vorstellungen von Normativität zu begründen. Vielmehr sind die Dynamiken des digitalen Wandels der Gesellschaft in ihren Paradoxien zu begreifen, deren Potenziale mit gänzlich neuen Formen des Autonomieverlustes einhergehen und daher neue normative Begründungsmuster erfordern. Die damit notwendig erscheinende ‚Befreiung aus der Mündigkeit‘ (Honneth 2002) wird anhand einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der Individualisierung plausibilisiert, der derzeit sowohl als zentrales Motiv bildungspraktischer Bemühungen um digitale Souveränität fungiert als auch ins Fadenkreuz subjektdezentrierender Ansätze geraten ist (Bettinger & Reißmann 2022).
Andreas Spengler:
Mit Konstitution und Geschichte der gegenwärtigen Medienpädagogik geht einher, dass sie nicht als ein klar abgrenzbares Feld greifbar ist, sondern in ihr mitunter höchst unterschiedliche bis divergierende Zielsetzungen wie Normativitätsvorstellungen koexistieren. Virulent wird dies insbesondere in der Diskussion und Auslegung leitender Begriffe wie etwa Medienkompetenz und Medienbildung, Selbst-/Sozialisation im Kontext Medien oder Medienpädagogik und Mediendidaktik. Verbunden sind damit aber auch latente Menschen- und Gesellschaftsbilder, deren Diskussion oftmals nur spärlich erfolgt, die jedoch pädagogisches Handeln prägen. Der Impuls nimmt dies zum Ausgangspunkt, Medienpädagogik als ‚Ökoton‘ zu fassen, um von dort aus nach den normativen Implikationen fragen.
Valentin Dander:
Welche Anforderungen werden aus und in pädagogischen Praxisfeldern – Schule, außerschulische Bildung, Hochschule, Erwachsenenbildung – an medienpädagogische Akteur:innen herangetragen oder von diesen bedient? Welche normativen Lagerungen sind in diese eingeschrieben? Das ‘Musterformular’ einer Methodenkonzeption, eines Curriculums, einer Projektbeschreibung etwa sieht klare (implizit stets auch normative) Zielsetzungen vor und darf nicht beim ‚reinen Prozess‘ Halt machen. Inwieweit ragen diese Anforderungen in erziehungswissenschaftliche Medienforschung hinein, werden dort thematisiert und lassen sich umgekehrt wieder von wissenschaftlichen Erkenntnislogiken affizieren? Der Impuls versucht sich an vorläufigen Antworten auf diese Fragen an das medienpädagogische Theorie-Praxis-Verhältnis.
Literatur
Bettinger, Patrick; Reißmann, Wolfgang (2022, Hrsg.): Digitalität und Souveränität. Braucht es neue Leitbilder der Medienpädagogik. merz – Medien & Erziehung, 66 (Nr.6). München: kopaed.
Dander, Valentin (2024): Medienbildung und der digitale Faschismus. Normative Anfragen an medienpädagogische Kernkonzepte. In: Schenk, Sabrina (Hrsg.): Populismus und Protest. Demokratische Öffentlichkeiten und Medienbildung in Zeiten von Rechtsextremismus und Digitalisierung. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, S. 149-174
Fuchs, Thorsten; Jehle, May; Krause, Sabine (2013, Hrsg.): Normativität und Normative (in) der Pädagogik. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft. Würzburg: Königshausen&Neumann.
Grünberger, Nina; Dander, Valentin (i.E.): Über die Diskutierbarkeit bevorzugter Zukünfte in einer nachhaltigen Digitalität, in: Björn Maurer, Marco Rieckmann, und Jan-René Schluchter (Hrsg.), Medien – Bildung – Nachhaltige Entwicklung. Inter- und transdisziplinäre Diskurse, Weinheim/Basel: Beltz-Juventa.
Honneth, Axel (2002, Hrsg.): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus. Frankfurt/Main: Campus.
Keiner, Edwin (2017): Didaktik – Bildung – Technik – Kritik. Medienpädagogik und Antinomien der Moderne, in: MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Jg. 27, S. 270–286.
Kiefer, Florian (2022): Akzeptierende Medienpädagogik und professionelles Handeln aus Sicht der Wissenssoziologie Karl Mannheims, in: MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Jg. 50, S. 75–112.
Koller, Hans-Christoph (2016): Ist jede Transformation als Bildungsprozess zu begreifen? Zur Frage der Normativität des Konzepts transformatorischer Bildungsprozesse, in: Dan Verständig, Jens Holze, und Ralf Biermann (Hrsg.), Von der Bildung zur Medienbildung: Festschrift für Winfried Marotzki, Wiesbaden: Springer VS (Medienbildung und Gesellschaft), S. 149–162.
Leineweber, Christian (2020): Digitale Bildung und Entfremdung – Versuch einer normativ-kritischen Verhältnisbestimmung. In: Valentin Dander, Patrick Bettinger, Estella Ferraro, Christian Leineweber, und Klaus Rummler (Hrsg.): Digitalisierung – Subjekt – Bildung. Kritische Betrachtungen der digitalen Transformation. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich, S. 38-56.Meseth, Wolfgang; Casale, Rita; Tervooren, Anja; Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2019): Normativität in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: Springer VS.
Spengler, Andreas (2022): Medienbildungstheorie und Subjektivierungsanalytiken. Kritik norm(alis)ierender Regierungstechnologien als Aufgabe der Medienpädagogik. In: Medienimpulse, Jg. 60, H. 4. DOI: https://doi.org/10.21243/mi-04-22-20.
Stojanov, Krassimir (2019): Bildung gegen Populismus?, praefaktisch.de - Ein Philosophieblog, [online] https://www.praefaktisch.de/bildung/bildung-gegen-populismus/.
Sünker, Heinz; Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.) (1999): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?!, Frankfurt am Main: Suhrkamp.