19.–20. Sept. 2024
Universität Wien
Europe/Vienna Zeitzone
Das Programm ist online - die Anmeldung ist möglich.

Offen 3 (SE 4): Digitalität als medienpädagogische Perspektive auf Bildungs- und Versorgungsprozesse im Gesundheitswesen am Beispiel der Pflege

Nicht eingeplant
45m
Institut für Bildungswissenschaft (Universität Wien)

Institut für Bildungswissenschaft

Universität Wien

Sensengasse 3a 1090 Wien
1 - 15/15 Vortrag vor Ort Medienpädagogische Forschung (Offener Beitrag)

Sprecher

Daniela Thomas (Katholische Hochschule Nordrhein Westfalen (katho) Nelly Harder (DIP) Thomas Kroll (Katholische Hochschule Nordrhein Westfalen (katho) Tobias Hölterhof (DIP)

Beschreibung

Lebenswelten und kulturelle Praktiken unterliegen einem stetigen Wandel. Dies zeigt sich besonders in Prozessen der Digitalisierung und in den hierdurch geschaffenen Möglichkeitsräumen der Digitalität (Stalder, 2021, p. 4; Noller, 2022, S. 45). Dabei richtet Digitalität den Blick auf digitale Praktiken, die das Leben als Kulturtechniken durchdringen (Krämer, 2018, S. 6). Diese konstituieren sich in einer spezifischen Situiertheit, werden mit etablierten Handlungen verbunden und in gemachten Erfahrungsstrukturen eingebettet. Sie folgen weniger technologischer Determination als sozialen Schließungs- und Aushandlungsprozessen (Koch, 2023, S. 32f).
Digitalität als Charakteristik der Lebenswelt durchdringt auch Kulturpraktiken im Zusammenhang mit Gesundheit und gesundheitlicher Vulnerabilität (Luna 2009, 2019). Doch gerade im Kontext des Gesundheitswesens ist oft eine instrumentelle Perspektive auf Digitalisierung prägend, die in einen Kontrast zur Lebensweltlichkeit von Digitalität geraten kann. So zeigen Studien etwa eine Skepsis von Pflegekräften gegenüber Robotik (vgl. Weidner, Harder, Hölterhof & Linnemann 2023), obgleich die damit zusammenhängenden Anwendungsformen und Einstellungen in der Lebenswelt bedeutsam werden (Ethikrat 2020).
Anhand von zwei öffentlich geförderten Projekten möchte dieser Beitrag anwendungsnah eine Perspektive der Digitalität im Kontext des Gesundheitswesens entwickeln und diskutieren, die den Lebensweltbezug von Digitalität im Bereich von Bildungs- und Versorgungssstrukturen des Gesundheitswesens herausstellt und fokussiert. Dabei handelt es sich zum einen um das Projekt CrossComITS (BMBF), welches neben anderen Zielgruppen auch Pflegende als Mittler und Multiplikatoren einer digitalen Kultur analysiert. Zum anderen entwickelt die “Digitale Bildungsoffensive Pflege” in Rheinland-Pfalz (MASTD RLP) ein Fortbildungskonzept für Pflegelehrende zum Thema digitales Lehren und Lernen. Die Projekte spannen ein Kontinuum auf zwischen informellem und formalem Lernen, zwischen qualitativer und quantitativer Analyse sowie zwischen Anleitung und Informieren von Pflegebedürftigen als professionelle Pflegepraxis sowie Lehren und Lernen als Bildungspraxis der Pflegelehrenden in der Ausbildung. Dieses Kontinuum schafft einen interessanten Feldzugang, um die Eigenheiten einer Perspektive der Digitalität auf Lern-, Bildungs- und Aneignungsprozesse im Kontext der digitalen Transformation herauszustellen.
Das Projekt “CrossComITS” adressiert die Ausbildung von Seniorinnen zu Sicherheitsmittlerinnen für den selbstbestimmten Umgang mit Aspekten der Privatheit und IT-Sicherheit in privaten Lernsettings. Es ist ein Projekt im Rahmen der Ausschreibungslinie “Forschung Agil - Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern bei der privaten IT-Sicherheit” des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Deutschland und eine Kooperation der Universität Siegen, der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) sowie der NanoGiants GmbH. In Anschluss an die Bedürfnisse der Lebenswelten älterer Menschen werden Bildungsszenarien entwickelt, die das Smartphone und das Thema Passwortsicherheit fokussieren. Im Rahmen des mediendidaktischen Arbeitspakets an der Katholischen Hochschule werden auch beruflich Pflegende in diesem Zusammenhang als Zielgruppe untersucht, weil sie sich als Mittlerinnen in vielfältigen Lebenswelten bewegen, in denen das Smartphone eine wichtige Bedeutung einnimmt. In leitfadengestützten Interviews (n=10) mit beruflich Pflegenden in verschiedenen Einrichtungen der Akut- und Langzeitpflege werden die Vorstellungen und Praktiken des Vermittelns in der täglichen pflegerischen Arbeit und im Zusammenhang mit der Nutzung von Smartphones erörtert. Die Auswertung folgt dem Vorgehen nach Kuckartz und Rädiker (2024). Zur Reflexion der Mittlerinnen-Perspektive wird Krämers heuristisches Modell des Boten verwendet (Krämer, 2008). Erste Analysen zeigen eine Relevanz des Smartphones für das Handeln von Pflegekräften und die hiermit zusammenhängenden Bedürfnisse der Betroffenen:
“Was das Smartphone angeht? Ständig, tatsächlich. Also, dass, eh, gerade natürlich ältere Menschen dann irgendein Problem haben. ‚Ich hab´ keinen Empfang‘, ‚Ich hab kein Guthaben‘, ‚Meine SIM-Karte funktioniert nicht‘, ich sag mal so die klassischen Sachen, das kommt eigentlich ständig vor also [..] (Interview.1)
Das Spektrum, in dem Pflegende im Kontext dieser Bedürfnisse vermitteln tätig werden, changiert zwischen der Förderung von Unabhängigkeit und der vollständigen Übernahme der Problemlösung. Ob und wie Menschen mit Pflegebedarf im Zusammenhang mit dem Smartphone unterstützt werden scheint eine persönliche Entscheidung der jeweiligen Pflegefachkraft:
“Jeder hat ehm, andere Vorstellungen von dem, wie er seine Arbeit ausübt und ehm, wie er den Bewohnern gerecht werden kann. Und wenn es da damit gut gemacht wird, den Leute zu erklären, wie sie ihr Smartphone bedienen, dann (...) besser geht es nicht, ne.” (Interview 9)
Die Auswertung des empirischen Materials ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Es zeigt sich jedoch bereits, dass sich aus dem Umgang mit dem Smartphone Unterstützungsbedarfe auch in pflegerischen Kontexten ergeben. Eine Perspektive der Digitalität entwickelt dieses Projekt in der Analyse der Relationalität von digitaler Technologie, lebensweltlichen Praktiken der Betroffenen sowie beruflichen Praktiken der Pflegenden. Veränderungsprozesse werden deutlich, die sich auch im Handeln von Pflegekräften niederschlagen.
Die digitale Bildungsoffensive Pflege in Rheinland-Pfalz adressiert die Entwicklung digitaler Kompetenzen von Lehrenden in der beruflichen Pflegeausbildung. Es ist ein Anschlussprojekt einer breit angelegten Status-Quo-Erhebung der Digitalisierung sowohl der pflegerischen Versorgungseinrichtungen (akutstationäre Pflege, teil-/vollstationäre Pflege und ambulante Pflege) als auch der Pflegeschulen sowie der Lehrenden an Pflegeschulen im Bundesland (vgl. Weidner, Harder, Hölterhof & Linnemann 2023). Sowohl die Erhebung als auch die Bildungsoffensive sind Projekte des Landesministeriums für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung und werden am Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) durchgeführt, einem An-Institut der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Als Modell digitaler Kompetenzen wird das DigCompEdu-Modell (Redecker 2017) in der Befragung der Lehrenden eingesetzt. Die Datenbasis in Hinblick auf die Pflegeschulen basiert auf einer Befragung der Schulleitung, deckt 63,1% aller Pflegeschulen des Landes ab (n=41) und beschreibt eine digitale Ausstattung, die stark durch Anschaffungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie geprägt ist und nun vor der Herausforderung einer didaktisch und pädagogisch sinnvollen Integration digitaler Lehr- und Lernpraktiken in den Schulalltag steht. Eine kontrastierende Clusteranalyse der Datenbasis (k-mode Algorithmus) stellt eine Cluster von fortgeschrittenen Schulen (n=12) im Vergleich zu einem Cluster mit weniger fortgeschrittenen Schulen heraus (n=29). Interessant ist, dass das Vorliegen eines Medienkonzepts eher ein Charakteristikum des fortgeschrittenen Clusters darstellt. Die Erhebung der Lehrenden anhand von DigCompEdu zeigt eine experimentelle, weniger systematisch integrierte Kompetenzausprägung hinsichtlich professionellen Engagements (2,97, min=1, max=5), digitaler Ressourcen (3,15), Lehren und Lernen (2,99), Evaluation (2,71), Lernendenorientierung (3,06) und Förderung digitaler Kompetenzen (2,97). Im Hinblick auf die Konzeption einer Fortbildung für Pflegelehrende auf der Basis dieser Daten wird der Aspekt der Digitalität insbesondere in der thematischen Vernetzung von digital unterstütztem Lehren und Lernen mit dem eigenen beruflichen Engagement sowie mit der Förderung digitaler Kompetenzen der Lernenden für Pflege in einer digitalen Welt adressiert. Die Fortbildung fokussiert das Thema nicht deduktiv und isoliert, sondern bindet es durch den explorativen Bezug zur eigenen Berufsbildungspraxis sowie zur Pflegepraxis und Lebenswelt in eine kontextuelle Breite ein, in der Synergien entdeckt werden können.
Vor dem Hintergrund des durch diese Projekte aufgespannten Kontinuums wird die Verwobenheit digitaler Technologien mit kulturellen Praktiken besonders deutlich und zeigt Implikationen einer medienpädagogischen Perspektive der Digitalität für die Berufe des Gesundheitswesens im Kontrast zu einer instrumentellen Anwendung digitaler Technologie auf. In beiden Projekten gerät das Digitale als Kontingenz der Umwelt in den Fokus der beruflichen Akteure, sei es durch die Notlage der COVID-19-Pandemie oder durch die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen. Die Analysen der Felder lassen die Relevanz einer Relationalität digitaler Technologie zur Lebens- und Arbeitswelt der Akteure mit ihren sozialen Praktiken deutlich werden. Für medienpädagogisches Handeln im Kontext des Gesundheitswesens unterstreichen beide Projekte die Bedeutung einer Annäherung an die digitale Transformation, die neue Technologien und Geräte nicht als isolierte Instrumente thematisieren, sondern Technologie in ihrer Lebensweltlichen und sozialen Relationalität erfahrbar werden lassen.

Deutscher Ethikrat (Hrsg.). (2020). Robotik für gute Pflege: Stellungnahme: 10. März 2020. Deutscher Ethikrat.
Luna, F. (2009). Elucidating the Concept of Vulnerability: Layers Not Labels. International Journal of Feminist Approaches to Bioethics, 2(1), 121–139. http://www.jstor.org/stable/40339200
Luna, F. (2019). Identifying and evaluating layers of vulnerability – a way forward. Developing World Bioethics, 19(2), 86–95. https://doi.org/10.1111/dewb.12206
Koch, G. (2023). Digitalisierung aus kulturanalytischer Sicht. Forschungszugänge für die empirische Bildungsforschung. In S. Aßmann & N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität (S. 21–45). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_2
Krämer, S. (2018). Der ‚Stachel des Digitalen‘ – ein Anreiz zur Selbstreflexion in den Geisteswissenschaften? Ein philosophischer Kommentar zu den Digital Humanities in neun Thesen. Digital Classics Online, Bd. 4, 5-11 Seiten. https://doi.org/10.11588/DCO.2017.0.48490
Krämer, S. (2008). Medium, Bote, Übertragung: Kleine Metaphysik der Medialität (Erste Auflage 2020). Suhrkamp.
Kuckartz, U., & Rädiker, S. (2024). Fokussierte Interviewanalyse mit MAXQDA: Schritt für Schritt. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40212-9
Noller, J. (2022). Digitalität: Zur Philosophie der digitalen Lebenswelt. Schwabe Verlag.
Redecker, C. (2017). European Framework for the Digital Competence of Educators:DigCompEdu. https://api.semanticscholar.org/CorpusID:170019470
Stalder, F. (2021). Was ist Digitalität? In U. Hauck-Thum & J. Noller (Hrsg.), Was ist Digitalität? (S. 3–7). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62989-5_1
Weidner, F., Harder, N., Hölterhof, T., & Linnemann, G. (2023). digi2care – Studie zur Digitalisierung der Pflege in Rheinland-Pfalz. Abschlussbericht und Handlungsempfehlungen. Köln und Mainz: Ministeriums für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz. Abgerufen von Ministeriums für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz website: https://mastd.rlp.de/fileadmin/06/Pflege/Pflege_Dokumente/MASTD__Abschlussbericht_Digi2care_2023bf.pdf

Poster Nein

Hauptautoren

Daniela Thomas (Katholische Hochschule Nordrhein Westfalen (katho) Thomas Kroll (Katholische Hochschule Nordrhein Westfalen (katho) Tobias Hölterhof (DIP)

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